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GESPRÄCHE ÜBER PERFORMANCE UND PUBLIKATIONEN
Impressum

Hermann Heisig

ist freischaffender Tänzer und Choreograf mit Basis in Berlin und Leipzig. Hermann spricht über seine kommende Publikation mit dem Arbeitstitel Hermann Heisig Timing, die im Herbst 2023 in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Igor Dobricić bei Spector Books in Leipzig erscheinen wird. www.hermannheisig.net 

Gespräch mit Hermann Heisig im April 2023

Hermann Heisig im Gespräch mit Angelika Waniek und Henriette Aichinger am 03.04.2023 / Ort: im Atelier von Angelika Waniek, Halle 14, Alte Baumwollspinnerei in Leipzig

Angelika: Über welche Publikation möchtest du mit uns sprechen? 

Hermann: Ja, die Publikation, an der ich gerade arbeite und die tatsächlich meine allererste Publikation ist, heißt: Hermann Heisig Timing. Das ist gerade der Arbeitstitel. Es geht um Zeit und Zeitverlauf. Ungefähr Zweidrittel des Buchs sind Fotos, die auf einem Zeitstrahl angeordnet sind. 

Ich bin 1981 in Leipzig geboren und bin jetzt 41 Jahre alt. Die Idee für das Buch ist, für jedes Jahr meines Lebens Fotos rauszusuchen. Hier sind ein paar Beispiele, die ich heute mitgebracht habe. Das sind Fotos, die einerseits aus dem privaten Kontext sind. Hier bin ich zum Beispiel als Baby zu sehen mit meiner Mutter, also Ende 1981, Anfang 82. [Hermann zeigt während des Sprechens verschiedene Fotografien.] Diese privaten autobiografischen Bilder mischen sich dann mit, beispielsweise Fotos von den ersten Auftritten. Das ist hier Ende der 90er Jahre beim Das beste deutsche Tanzsolo bei der euro-scene in Leipzig. Und es geht in der Publikation eben um diese Mischung zwischen Leben und künstlerischer Arbeit und wie diese Ebenen miteinander interagieren. Und was eine weitere Rolle spielt, ist die Ebene von sozialer Organisation. Also das hier zum Beispiel, 1991, kurz nach der Wende in meiner Grundschulklasse. Ein anderer Schwerpunkt ist die körperliche Entwicklung sozusagen. Einerseits ist das so in den 80er und 90er Jahren natürlich total obvious: wie die Entwicklung von einem Baby zu einem Kleinkind, zu einem jugendlichen Körper, zu einem Körper, der jetzt so irgendwie Anfang 40 ist. Welche Transformation durchläuft dieser Körper? Und gleichzeitig geht es dann ja auch um eine Geschichte, die sich weitestgehend in Leipzig und in Berlin abgespielt hat, also wo es auch um diese ganzen Transformationen geht, die in den 80er, 90er, Nuller Jahren innerhalb der Gesellschaft passiert sind. 

Und deswegen ist es auch ein intuitiver Prozess, diese Bilder auszusuchen – welche Bilder in einer gewissen Form für einige dieser Fragen repräsentativ sein können – um dann wie eine Anordnung, eine Art Choreografie von Bildern zu erstellen, wo es eben auch Kontraste gibt oder wo sich vielleicht bestimmte Fragen auch stellen, die idealerweise einen Link herstellen zum Leser, zur Leserin sozusagen, über eben diese körperliche Einordnung; in eine Generation oder in die körperliche Entwicklung. Und selbst wenn man jetzt quasi als Leserin aus einer ganz anderen Generation ist. Da fließen verschiedene Interessen bei mir zusammen. Und wichtig ist noch: Dieser Fototeil ist Zweidrittel der Publikation und das andere Drittel sind drei Essays. Eigentlich drei Texte – transkribierte Gesprächssituationen zu unterschiedlichen Themen – die auch mit den Bildern zusammenhängen.

Henriette: Was denkst du, was die Publikation kann, was deine performative Arbeit jetzt gerade nicht kann?

Hermann: Ich glaube, die performative Arbeit ist für mich, man kommt mit seinem Körper und bringt seine ganze Geschichte mit. Die hat sich da schon eingeschrieben. Aber trotzdem ist Performance auch nochmal eine Arbeit, die sehr in dem Moment und der Präsenz passiert. Und Publikationen oder Bücher haben andere Fähigkeiten, möglicherweise. Sie haben die Fähigkeit, Dinge zu speichern, oder man kann noch mal anders zugreifen auf unterschiedliche Lagerung von Dingen, die passiert sind. Das hat für mich eine Faszination. Der Moment, um zu probieren, ein paar Sachen festzuhalten... oder "festhalten" ist vielleicht das falsche Wort, es geht eigentlich auch um beides. Also ums Festhalten, aber auch ums "Aktivieren" oder vielleicht streckenweise auch "Loslassen" oder auch "Übergeben" oder "Weitergeben" – "Zugänglich machen" eigentlich. Das habe ich auch viel gedacht beim Sortieren der Fotos. Diese wahnsinnig vielen Fotos, wie machst du die für andere Menschen zugänglich? Wie kontextualisiert du die? Ein Teil meiner Arbeit ist auch, diese Fotos zu beschreiben – Texte zu entwickeln und ein bisschen zu spielen. 

Angelika: Ich würde gerne noch mal zu diesem Punkt des Organisierens zurück. Was ist Performance und was kann eine Publikation? Du hast es auch so beschrieben, es ist ein Organisieren von Raum und Zeit und von Handlungen darin. Und jetzt beim Sprechen, ist es mir so gekommen, dass dieser Unterschied Performance Publikation auch in der Ansprache besteht – Ansprache an das Publikum und das Agieren mit dem Publikum. Und du hast es jetzt so beschrieben, dass in deiner performativen Arbeit auch Improvisation eine Rolle spielt und auch ein Reagieren auf die Konzentration, die im Moment da ist. Ist dir das für die Publikation auch wichtig, also eine Form von Improvisation? Und hast du für dich schon einen Zugang dazu gefunden, wie du das vielleicht herstellen kannst in der Publikation?

Hermann: In einem dieser Essays geht es tatsächlich um Zufall oder die Verbindung zwischen Zufall und Spiritualität. Ich bin christlich aufgewachsen und da gibt es ein paar Bilder, die das auch dokumentieren. Ich war Messdiener gewesen. Das ist auch letztendlich etwas sehr Performatives. Und gleichzeitig bin ich mit Igor Dobricić – der Dramaturg, mit dem ich das Buch gemeinsam rausgebe – ... wir haben diese Idee von dieser Timeline entwickelt. Also, dass diese Fotos eben entlang eines Zeitstrahls organisiert sind und dann sind wir schnell zu dieser Verbindung gekommen, dass wir das gerne auch in dem ersten Essay ein bisschen näher beleuchten. Was ist das für eine Verbindung? Also, wie agiert man auf der Bühne, wie lädt man auch möglicherweise Zufall in künstlerische Arbeit ein und wie kann man das anders bewerten? Manchmal ist der Zufall so ein bisschen ein komisches ("slippery") Territorium. Weil, es gibt diese Vorstellung von guter Kunst. Dass gute Kunst möglicherweise ja bedeutet, alle Elemente des Kunstwerks gut im Griff zu haben. Und manchmal wäre das vielleicht für mich auch ganz interessant innerhalb der Publikation, sich auch noch mal mit diesem Thema des Zufalls oder "Wie lebt man das?" auseinanderzusetzen. Wie lädt man das ein, was in dem Moment präsent ist, in die künstlerische Arbeit? Und dann überlegen wir auch, also auch in dem Fototeil – da wissen wir noch nicht ganz genau, wie die Gestaltung sein wird – ob man zum Beispiel vielleicht auch mal das Bedürfnis verspürt, diese Zeitleiste nicht von Anfang bis Ende zu gehen. Für mich auch ein Thema in der Organisation der Bilder, wann taucht was auf und wann kommt was wieder? Oder es gibt ja dann auch im Verlauf der Zeit immer wieder Konstanten, beispielsweise Menschen, die man kennenlernt hat und wo es eine Beziehung gibt, die sich ganz lange hält und dann ist man plötzlich älter geworden. Aber dann möchte man vielleicht auch noch mal gucken, wie das 20 Jahre vorher oder so war. Also man könnte beim Anschauen möglicherweise das Gefühl bekommen, dass man sich treiben lassen kann, wie auf so eine Art Drift zu gehen. Das wäre für mich auf jeden Fall ein Interesse. Aber das betrifft, glaube ich, die Organisation der Fotos, wie ist der Abstand, welche sind zusammen, wo ist vielleicht auch mal ein Freiraum? Also der Rhythmus der Seiten sozusagen. Die Zeit verläuft ja auch nicht so... ("dut, dut, dut, dut"), sondern... das Leben... irgendwie hat ja jeder auch unterschiedliche Fließgeschwindigkeiten. Und dann gibt es manchmal Momente, wo sich Dinge überschlagen. Das wäre natürlich ein Ziel, diese Art von Dynamik zu übertragen in die Organisation der Struktur des Buchs. 

Henriette: Du hast jetzt über den Prozess erzählt, der zur eigentlichen Publikation führen soll. Hast  du dir über die Gestaltung oder das Papier oder die Wahl des Formats schon weitere Gedanken gemacht? Oder seid ihr erstmal mit der inhaltlichen Konzeption beschäftigt?

Hermann: Es gibt schon so ein paar erste Gedanken. Ich bin an den Verlag herangetreten – Spector in Leipzig. Und dann hat sich daraus eine Reihe von Treffen im Verlag ergeben, wo wir geguckt haben, was ein gutes Format sein könnte, usw. Da habe ich mich aber ein bisschen verlassen auf die Expertise der Leute dort. Also über das Papier, da bin ich mir noch nicht ganz sicher, welches das sein wird, aber so ungefähr der Umfang ist klar, die Zeichen sind da. Das fand ich auch ganz interessant, weil ich das natürlich in dem Moment noch nicht sagen konnte. Aber der Verlag braucht diese Angaben, um zu kalkulieren, wie sind die Druckkosten und wie steht das alles zeitlich im Verhältnis? Und jetzt weiß ich, dass mein Buch 208 Seiten haben wird.

Henriette: Fühlst du dich mit dem Buch als Raum oder Möglichkeit wohl oder hast du zwischendurch die Idee, eigentlich schafft das Buch das gar nicht, was ich will?

Hermann: Da bin ich neugierig, weil ich noch nie eines gemacht habe. Ich glaube, es wird sicher anders, wenn es dann da ist, wie ich mit dem Buch umgehe. Oder was für einen Körper hat das Buch. Und ich denke auch darüber nach... Also, ich mag die Leipziger Buchmesse total gern und als ich aufgewachsen bin in Leipzig, bin ich da oft gewesen als Kind und Jugendlicher. Und, ich habe es genossen, bei Lesungen von Leipzig liest dabei zu sein. Aber das ist ja auch in einer gewissen Weise das, wie eine Publikation performativ werden kann. Ich mochte das sehr, diese unterschiedlichen Lesungen an unterschiedlichen Orten mit unterschiedlichen Leuten, unterschiedliche Stimmen, die Art, wie Leute zuhören, wenn vorgelesen wird. Das gehört für mich auch schon in einer gewissen Weise zur Performativität eines Buchs dazu. Und so ist die Performativität stark verbunden mit der Art und Weise, wie das Buch entsteht. Wie gesagt, arbeite ich mit einem Dramaturgen zusammen, Igor Dobricić. Und die Idee für das Buch ist in mehreren Treffen entstanden. Und gerade vor zwei Tagen hatten wir unser letztes Treffen und haben da auch noch mal überlegt, dass die Essays keine geschriebenen Essays sind. Weil, einerseits zu gucken okay, 3000 oder soundso viele Zeichen und okay, wer schreibt die Essays und bis wann müssen die abgeliefert sein? [...] Ich war sehr in dieser organisatorischen Ebene drin und da haben wir noch eine kleine Drehung gemacht [und] gesagt, diese Essays werden nicht jeweils von einer Person geschrieben, sondern das sind unterschiedliche Setups von Gesprächen. Das erste Essay ist ein Gespräch zwischen zwei Personen, das zweite eins zwischen drei und das dritte eins zwischen acht Personen. Also es gibt  eine Entwicklung – innerhalb der Essays verbreitert sich der Kreis der Leute, die sich mit den Bildern auseinandersetzen. Und für diese Treffen, da bin ich auch gerade dabei: Was für Zutaten brauchen die? Wie kann ich möglicherweise diese Treffen mit Fotos anreichern? Und was machen die anderen Leute mit den Fotos? 

Die Wende, Umbruchs-, Nachwendegeschichte spielt da eine Rolle. Und auch Gentrifizierungsprozesse. Welche Orte spielen eine Rolle in den 90er, Nuller Jahren und gibt es sie jetzt noch? Es gibt so unterschiedliche inhaltliche Klammern, die für die Gespräche wichtig sind. 

Aber ich denke, das soll eine performative Art und Weise haben, wie die Gesprächspartnerinnen, involviert werden. Also noch vor der Transkription quasi. Und ich könnte mir vorstellen, dass das vielleicht so ein Nukleus, so ein Kern sein könnte für ein Format, in dem das Buch vielleicht später auch präsentiert werden kann. Vielleicht [ist] in dem Sinne keine Lesung möglich mit dem Buch, weil es anders aufgebaut ist. Wenn ich jetzt das Buch vorlesen würde, würde sich das Buch vielleicht gar nicht erschließen. Und da denke ich, wäre [es] auch noch eine performative Aufgabe: Wie kommt man zusammen, um über dieses Buch eine Verbindung herzustellen?

Angelika: Das ist schön, dass du das erzählst, du nimmst das Buch als soziale Situation, als Anlass zu sprechen. Und das Buch auch in dem Moment als Prozess zu sehen und nicht als etwas Fertiges. Das finde ich sehr schön. Und auch, dass auf die Buchmesse verweist, auf etwas, was ja auch zu deinem Leben dazugehört, da du in Leipzig aufgewachsen bist. 

Hermann: Ja.

Angelika: Und du legst noch eine Ebene darauf... es geht dir nicht nur um die Aktivierung, sondern auch um das Herstellen von weiterem Inhalt.

Hermann: Das wäre tatsächlich eine Idee. Weil ganz häufig bei einer Lesung sitzt die Autorin, der Autor vorne und die Leute hören zu. Und ich meine, das ist natürlich auch etwas, was mich sehr fasziniert hat, dieses Zuhören auf einer Lesung. Dieses Zuhören ist für mich ein anderes Zuhören als im Theater. Ich erinnere mich zum Beispiel an die Lesung von Christa Wolf 1994 in der Stadtbibliothek in Leipzig. Da waren 800 Leute da. Oder vielleicht war es auch die Deutsche Bücherei der Nationalbibliothek, in diesem Lesesaal. Das war für mich total interessant, weil dieses Leseland DDR noch mal in den 90er Jahren als Geist aufgetaucht ist. Da waren eine extrem breite Anzahl von Leuten da und dann vor der Türe auch noch und sie wollten alle zuhören. Dieses Zuhören einer Stimme, das finde ich interessant. Aber es wird bei meiner Publikation bestimmt total anders sein, weil es eben da, glaube ich, darum geht, den Raum anders zu organisieren. Also wie gesagt, es gibt einen Verweis, möglicherweise auf Zufall. 

Gleichzeitig gibt es in meiner Familiengeschichte, mütterlicherseits, einen Link in Richtung Zufall, weil mein Urgroßvater Lotterieeinnehmer war, also eine Lotterie betrieben hat. Und das erste Foto in dem Buch ist möglicherweise auch eine Lostrommel, die in den 50er Jahren aufgenommen ist: Eine große Holztrommel, die sich dreht, die ganzen Lose sind da drin und im Hintergrund ist ein Gemälde zu sehen. Da ist Stalin drauf.  Es muss vor 1953 aufgenommen sein, irgendwann Ende der 40er und 50er Jahre in Leipzig. Ja, insofern sind da zwei Elemente: Disziplin, Ordnung und autoritäre Geschichte, aus der wir hier im Osten von Deutschland auch kommen und gleichzeitig diese Idee des Zufalls und der Lotterie. Und letztendlich denke ich, vielleicht ist die Lesung zum Beispiel auch eine Bilderlotterie. Möglicherweise befinden sich Leute gemeinsam in einem Raum und wie du sagst, Angelika, schreiben sie an etwas weiter. Das finde ich auch für mich eine faszinierende Idee von Biografie, dass man eben nicht sagt: okay, das ist jetzt meine Biografie, sondern... Biografie ist ja sowieso immer was Zurechtgemachtes oder zumindest was, wo man selber entscheidet, was sind die Versatzstücke? Und, dass man eben aber das nicht so festschreibt, sondern versucht, vielleicht diese Sachen eher so weiterzugeben in den Fluss, wo vielleicht dann Leute sagen ah ja, 1989, da war ich aber in Israel und da war das und das..., dass es eigentlich um diesen Link geht während der Lesung. 

Das wäre so eine Idee, wie sich die Publikation möglicherweise in einer sozialen Situation noch mal anders materialisieren würde. Und deswegen laufen diese Prozesse jetzt so ein bisschen parallel ab. Es gibt die Herstellung des Buchs und da gehört die Auswahl der Fotos dazu. Welches Set an Fotos stelle ich zusammen – für welches Gespräch, damit auf eine intuitive Art und Weise eine Verbindung entsteht? Und dann gibt es eine Konversation entlang der Fotos. Ein anderes Set oder Thema wäre für mich der disziplinierte Körper: Kindergarten, Jungpioniere, meine katholische Taufe, Schule, Hochschule auch. Ordnungssysteme, die einem begegnen im Leben, die unseren Körper prägen oder teilweise auch disziplinieren.

Die Auswahl der Bilder, die dann im Buch drin ist, ist nicht notwendigerweise die Auswahl, die einem dieser Gespräche zugrunde liegt. Oder vielleicht kommt das dann sogar später auch noch mal wieder in einer Lesung oder Aktivierung der Publikation.


Transkription: Henriette Aichinger

Angelika Waniek Henriette Aichinger Anna Till Hermann Heisig Irina Pauls Nora Frohmann und Clemens Fellmann